Konjunktur des Hasses
Anlässlich des Jahrestages des Massakers am 7. Oktober in Israel beharrt Ulrike Schrader auf den Mühen der Antisemitismuskritik
Die Bilder aus Gaza sind erschütternd und herzzerreißend. Mit jedem neuen Tag dieses fürchterlichen Krieges wächst das Mitleid mit den hungernden und obdachlos gewordenen Menschen, mit den eingeschüchterten und verstummten Kindern. Und es wächst weltweit die Kritik an der israelischen Regierung, die nicht die Absicht zu haben scheint, diesen Krieg zu beenden. Zehntausende Israelis demonstrieren dagegen. Kaum jemand glaubt noch daran, dass dieser Krieg zu einem wirklichen Frieden führt, und die meisten durchschauen längst, warum und wozu die Fakten in Gaza und im Westjordanland geschaffen werden.
Vor diesem düsteren Hintergrund steht die Antisemitismuskritik vor einer großen Herausforderung: Zwischen der Kampfparole „Free Palestine“ einerseits und der Selbstverständlichkeit, dass man das israelische Regierungshandeln kritisieren darf, bleibt nicht viel Raum, um auf die Zunahme gewaltbereiter Judenfeindlichkeit aufmerksam zu machen, über die Geschichte und Ausprägung des Antisemitismus aufzuklären und mit Jugendlichen zu diskutieren, wo Kritik endet und Judenhass beginnt.
Trotzdem: Der Krieg in Gaza ist kein Freibrief für Judenhass, und Antisemitismus lässt sich mit Netanjahu und seinen beiden rechtsextremen Ministern nicht entschuldigen. Judenhass bleibt, was es immer schon war: eine gefährliche Verschwörungsfantasie, die alles Unverständliche erklärbar machen will und von den Problemen und Widersprüchen, die es nun einmal gibt, ablenkt und zu erlösen scheint.
Wer noch Anfangs, direkt nach dem Angriff der Hamas, die feiernden, triumphierenden und Süßigkeiten verteilenden Menschen in Berlin-Neukölln und anderswo scharf verurteilt hat, geht mittlerweile auf so genannte „Pro Palästina-Demos“, hält die Hamas für eine Widerstandsorganisation, lädt anerkannte israelische Künstler aus und kündigt die Mitgliedschaft im Förderverein, z.B. der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal.
Dabei demonstrieren – und zwar schon vor dem 7. Oktober 2023! – Zehntausende Israelis gegen die rechte und rechtsextreme Politik der israelischen Regierung und erinnern sie an Rechtstaatlichkeit und demokratische Prinzipien. Aber sie demonstrieren jetzt vor allem für die Rückgabe ihrer Familienangehörigen, die sich auch nach zwei Jahren noch in der Gewalt der Hamas-Terroristen befinden, tot oder lebendig.
Was nicht vergessen werden darf: Die Hamas will Palästina nicht befreien. Sie verfolgt kein nationales Interesse. Die Taten der Hamas, die ja immer noch andauern, haben eine religiöse Dimension, und ihr Bezugspunkt ist die weltweite Umma, die Gemeinschaft aller Muslime. Nichts gibt es da, wofür man Verständnis haben könnte. Es gibt schlicht kein Argument, dem Sinnen und Trachten der Hamas gedanklich und praktisch zu folgen.
Die Wut, die Grausamkeit und die Wollust, mit der die Kämpfer am frühen Morgen des 7. Oktober 2023 feiernde junge Leute kidnappten, vergewaltigten und folterten, schlafende Familien schlachteten, Föten aus den Bäuchen der Schwangeren schnitten, speiste sich aus der Vorfreude auf das Paradies, wie es die Charta der Hamas verkündet: Erst, wenn alle Juden tot sind, stehen seine Tore offen. Das Gemetzel zu filmen und in Echtzeit zu posten, löste breite Begeisterung aus, bis in den fernen Osten, bis nach Indonesien. Auch diese Bilder waren zu sehen, alles, auch die Reaktionen auf das Töten, wurde sofort online gestellt. Das Himmelreich schien nahe am 7. Oktober 2023.
In historischer Hinsicht ist das gar nicht einmal neu: Die Kreuzzüge des Mittelalters dienten der Befreiung Jerusalems von den Sarazenen, und auf dem Weg dorthin schlug man auch die Juden tot, wo man sie antraf. Beide, die Sarazenen, also Muslime, und die Juden, galten den Kreuzrittern als „Ungläubige“. Martin Luthers Mordfantasien gegen die bekehrungsunwilligen Juden wurden geradezu zu Mustern für den nationalsozialistischen Maßnahmenkatalog zur Vertreibung und Ermordung der Juden. Die Gemetzel des Kosakenhäuptlings Bogdan Chelmnieckis im 17. Jahrhundert kannten keine Gnade und der Zynismus Wilhelms II – „Das Beste wäre Gas“ – im 19. keine Grenze. Und an die Tafel der ersten Klasse in der katholischen Schule in Schwelm schrieb jemand im Jahr 1936: „Alles Unheil kommt von den Juden!“ Was Jesus, der Jude, tatsächlich gesagt hat, ist nachzulesen im Johannesevangelium Kapitel 4, Vers 22.
„Und wenn dann in der Meeresrinne alle Juden sind drinne, oh Herr, dann schlag die Klappe zu, und alle Völker haben Ruh,“ heißt es in einem Lied aus einem populären Fahrtenliederbuch, erschienen 1934. Mit diesem Lied und großem Aufwand hat irgendjemand im Jahr 1938 in der Barmer Schwartnerstraße eine Installation mit lebensgroßen Puppen gebaut.
Solche drastischen Mordgelüste waren unverhohlen, trafen auf breite öffentliche Zustimmung und blieben ungestraft. Die Nationalsozialisten nutzten diese Stimmung für ihre Propaganda – hinein in die deutsche „Volksgemeinschaft“, aber zur Gewinnung potenzieller Kombattanten. Über den Kurzwellensender Zeesen bei Berlin fluteten sie die arabische Welt seit 1937 mit nationalsozialistischer Propaganda, in arabischer Sprache und durchwirkt von Koran-Zitaten und Hadithen. Diese Hetzreden in Goebbelscher Manier kursieren bis heute und wirken.
Es ist die religiöse Dimension des eliminatorischen Antisemitismus, die den Hass der Hamas und ihrer Anhänger antreibt, denn sie verspricht Erlösung und das Paradies. Darin gleicht sie der Ideologie der Nationalsozialisten.
Free Palestine! Möchte man da rufen. Möge Palästina frei sein und ein freier Staat, mit freien Menschen! Möge er demokratisch sein, mit freien Wahlen und einem funktionierenden Justizsystem, mit selbstverständlichen und gleichen Rechten für Männer, Frauen und queere Personen, mit Moscheen, Kirchen und Synagogen, mit Schulen, Universitäten, Schwimmbädern und Krankenhäusern, mit Sozialversicherung und öffentlichem Nahverkehr. Free Palestine!
Wer aber in Deutschland und in Wuppertal „Free Palestine!“ an Hauswände schmiert, hat alles das nicht im Sinn. Dieses „Free Palestine“ ist eine ausbau- und wandlungsfähige Kampfparole, die zum Hass gegen Israel als jüdisches Kollektiv und gegen jeden einzelnen jüdischen Menschen aufruft. Diese Parole will in der Variante „From the River to the See“ Israel vernichten. Und in der Variante „Free Palestine from german Guilt“ deutet sie in dreister Täter-Opfer-Umkehr den Staat Israel als die Verwirklichung eines überzogenen und unberechtigen Wiedergutmachungsanspruchs.
Gleichgültig, wie sich der Krieg in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln wird, wozu die aktuellen Gespräche führen und was mögliche Verhandlungen ergeben: Der Antisemitismus als Weltanschauung und Leidenschaft – wie Jean Paul Sartre ihn 1944 beschrieben hat – ist nicht und nie zu tolerieren. Darum ist es nach wie vor so sehr wichtig, sich mit ihm zu beschäftigen, um sich von ihm zu befreien.

